„Rheinpfalz“-Interview mit Volker Herres, Programmdirektor Erstes Deutsches Fernsehen, 4. April 2020
Herr Herres, seit der Corona-Krise herrscht eine Hausse auf dem Informationsmarkt. Wie wichtig sind Medien in Krisenzeiten für unsere Gesellschaft?
Wir durchleben gerade den Beginn einer Krise der neuen Dimension. Das Zusammenleben wird auf ein Mindestmaß gestutzt. Die gesundheitlichen, die sozialen, die wirtschaftlichen und politischen Folgen sind noch gar nicht abschätzbar, werden aber gewaltig sein. Medien bekommen da eine zentrale Rolle und immense Verantwortung. Wir müssen verlässlich und kontinuierlich seriöse und überprüfte Informationen bieten, aktuell und hintergründig. Wir müssen Fakten und Service liefern und so Orientierung ermöglichen. Gerade der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss in dieser Zeit den Zuschauerinnen und Zuschauern, den Hörerinnen und Hörern, den Nutzern unserer non-linearen Angebote eine vertrauenswürdige Quelle und Stütze sein. Die Menschen nutzen ja unsere Sendungen etwa im Ersten in noch weit größerer Zahl als in normalen Zeiten. Und auch die Abrufe in unserer ARD-Mediathek sind steil nach oben geschossen. Ich mag mir in dieser Situation ein Land ohne ARD und ZDF nicht vorstellen. Wir spüren die Herausforderung und arbeiten ja auch selbst im Ausnahmemodus. Wesentlich ist die Erfüllung des Informationsauftrags, aber auch Angebote zur Entspannung erfüllen in einer Situation der sozialen Isolierung von Menschen eine wichtige Rolle. Die Zuschauerinnen und Zuschauer machen reichlich Gebrauch von diesem Angebot: Im März waren wir im Hauptabend mit klarem Vorsprung das meistgesehene Programm im deutschen Fernsehen. Und was zudem bemerkenswert ist: Beim jüngeren Publikum, also den 14- bis 49-Jährigen, erzielte Das Erste im März gegenüber dem Vormonat den größten Zuwachs aller TV-Sender.
Gemäß der Agenda-Setting-These haben die Medien zwar keinen großen Einfluss darauf, was das Publikum zu einzelnen Themen denkt, sehr wohl aber darauf, worüber es sich überhaupt Gedanken macht. Ist die Berichterstattung über die durch das Coronavirus verursachte Erkrankung Covid19 angemessen?
Meines Erachtens passt hier die Agenda-Setting-Theorie nicht wirklich, denn die Corona-Krise wurde ja nicht von Medien in den Focus gestellt und auf die Tagesordnung gesetzt. Die dramatische Ausbreitung des Virus‘ erfolgt auch ohne Zutun der Medien. Wenn Gesellschaften im Kern bedroht sind, werden automatisch alle anderen Themen nachranging. Da müssen wir über die Gefahren, Auswirkungen und politischen wie medizinischen Gegenmaßnahmen umfassend informieren. Alles andere wäre Versagen, und die Resonanz auf unsere Sendungen bestätigt dies. Jeder beobachtet doch, dass Gespräche zu Hause oder am Arbeitsplatz sich fast nur noch um eben dieses eine Thema drehen.
Beim Axel-Springer-Verlag wurden Mitarbeiter verpflichtend ins Homeoffice geschickt, der Deutschlandfunk hat eine hausinterne Taskforce für den Umgang mit dem Virus installiert. Wie reagiert Das Erste auf die Corona-Krise?
In der Programmdirektion Erstes Deutsches Fernsehen, die Das Erste als ARD-Gemeinschaftsprogramm koordiniert, orientieren wir uns an unserer sogenannten Sitzanstalt, dem Bayerischen Rundfunk. Soweit es geht, arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Home Office. Nur eine Kernbelegschaft ist noch im Münchner Funkhaus. Das werden die Zuschauerinnen und Zuschauer im Programm nicht merken, aber natürlich gibt es Einschnitte. Um ein Programm wie Das Erste im Krisenmodus zu koordinieren, haben wir einen immensen Abstimmungs- und Kommunikationsbedarf: Videokonferenzen, Telefonschalten, Einzeltelefonate non-stop prägen den Arbeitstag. Weiteres Beispiel: Unsere Serviceredaktion kann das Zuschauertelefon während der Ausgangsbeschränkungen für zunächst zwei Wochen nicht besetzen und wird sich in dieser Zeit auf E-Mail-Kontakte, die Kommentare bei DasErste.de und die zahlreichen Social-Media-Aktivitäten konzentrieren müssen.
Notprogramme, Recherchen und Beiträge aus dem Homeoffice, Sendungen wie der ARD-Talk „Anne Will“, „Das aktuelle Sportstudio“ des ZDF oder Shows wie „The Masked Singer“ auf ProSieben ohne Publikum - welche Sendungen sollten angesichts der Corona-Pandemie stattfinden, welche besser nicht?
Vor allem ist fundierte Information gefragt, also Nachrichten, Reportagen, Magazine und Dokumentationen. Aber gerade jetzt haben die Menschen auch ein Bedürfnis nach Entspannung und Unterhaltung. Genreübergreifend stehen bei aktuellen Produktionen die Sicherheit und der Schutz der Beteiligten an erster Stelle. Ich habe den Eindruck, dass alle Programmanbieter in der derzeitigen Situation sehr verantwortungsbewusst agieren.
Welche Auswirkungen auf das laufende Programm hat die Corona-Krise? Wird es bald einen programmlichen Engpass aufgrund verschobener oder entfallener Produktionen geben?
Ja, denn viele Ereignisse über die wir in normalen Zeiten berichten, finden ja gar nicht mehr statt. Die Europameisterschaft ist abgesagt, ebenso die Olympischen Sommerspiele, die Bundesliga pausiert, der Eurovision Song Contest fällt aus. Veranstaltungen und TV-Produktionen mit Publikum sind derzeit nicht möglich. Das trifft natürlich die Unterhaltung. So haben wir ja kürzlich etwa die Feste mit Florian Silbereisen absagen müssen. Und für die Produktion von Filmen und Serien gibt es faktisch einen Produktionsstop. Noch können wir unser Programm fast vollumfänglich aufrechterhalten, aber bei einigen Serien wie „Sturm der Liebe“ oder „Rote Rosen“ werden wir ab ca. Mitte Mai, spätestens Anfang Juni mit Wiederholungen arbeiten müssen ebenso wie bei „In aller Freundschaft“. Bei anderen Reihen wie zum Beispiel dem „Tatort“ am Sonntag sind die Erstausstrahlungen bis zur Sommerpause noch gesichert. Wie’s weitergeht, hängt davon ab, wie lange die Ausnahmesituation anhält. Höchste Priorität im Ersten und in der gesamten ARD hat aber die Aufrechterhaltung des aktuellen Informationsangebots, das in dieser Krise für die Zuschauerinnen und Zuschauer von zentraler Bedeutung ist.
Die Bundesregierung plant Hilfsfonds und Notprogramme für die Wirtschaft. Wie hart wird es deutsche Verlage, Sender, Produktionsfirmen und vor allem die in den Medien Beschäftigten treffen? Welche Auswirkungen erwarten Sie?
Es trifft bereits jetzt viele hart, freie Mitarbeiter genauso wie die Produktionsfirmen, die nun Drehstopp haben. Zum jetzigen Zeitpunkt ist der gesamte Schaden aber noch gar nicht zu beziffern, da wir nicht wissen, wie lange die Einschränkungen gelten müssen. Natürlich werden wir alles in unseren Möglichkeiten Stehende tun, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise auf die in unserem Auftrag produzierenden Firmen abzufedern. Darüber sind wir im partnerschaftlichen Dialog etwa mit der Produzentenallianz und haben ja bereits konkrete Hilfsmaßnahmen vereinbart. Diese Woche haben wir ein umfangreiches Paket von Produktionen für das zukünftige Vorabendprogramm beauftragt ‑ ganz bewusst jetzt, um den Produktionsfirmen damit Planungssicherheit zu verschaffen.
Sondersendungen, Blogs, Liveticker, Fernsehansprachen, Podcasts, Faktenchecks – gerade die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten erzielen mit ihrer Corona-Berichterstattung Rekordeinschaltquoten, auch in der werberelevanten Zielgruppe. Hat diese Krisensituation für Medien auch einen positiven Effekt?
Es ist gut zu wissen, dass die Menschen dem Ersten, den Dritten und dem ZDF in der Krise im besonderen Maß ihr Vertrauen schenken. Das unterstreicht die Bedeutung und den Stellenwert des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Mit der „Tagesschau“ kamen wir neulich über alle linearen Ausspielwege auf 45 Prozent Marktanteil. Allein im Ersten erreichten wir 12,24 Millionen Zuschauer und einen Rekordmarktanteil von 30,3 Prozent beim Gesamtpublikum und von 27,4 Prozent bei den 14- bis 49-Jährigen. Auch Jüngere wenden sich also verstärkt unserem Programm zu.
Die Kölner Medienwissenschaftlerin Marlis Prinzing sieht bei professionell arbeitenden Medien die Schwelle zum Sensationalismus überschritten, wenn zu wenig Einordnung passiert und stark mit Reizen und Bildern gearbeitet wird. Selbst das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ habe Corona als von Chinesen gemacht dargestellt. Wo sehen Sie die Grenze zu stereotyper Diskriminierung und Desinformation?
Die Grenze wird durch die strikte Einhaltung journalistischer Grundsätze gezogen. Zudem verfügt die ARD sowohl in der Region als auch weltweit über ein großes Korrespondenten-Netzwerk, das die umfassende Recherche und Verifikation von Informationen gewährleistet. Die Lage ist so ernst, dass sie aus sich heraus Dramatik entwickelt, aber Sensationalismus ist unsere Sache nicht.
Auch Privatsender wie RTL, ProSieben und Sat.1 haben Corona-Sondersendungen lanciert – könnte die Krise eine Renaissance zu mehr Informationen im Rundfunk bedeuten?
Das Erste hat seinen Schwerpunkt schon immer auf der Information gehabt. 44 Prozent des Programmangebots lässt sich dem Genre Information zuordnen. Und das spiegelt sich auch in der Zuschauerresonanz, in der Das Erste bei repräsentativen Umfragen regelmäßig als der Informationssender Nummer 1 wahrgenommen wird, dem das Publikum die höchste Qualität bescheinigt. Insofern brauchen wir im Ersten diesbezüglich gar keine Renaissance. Aber es zeigt sich, dass Das Erste in Krisen-Situationen wie diesen durch seine eingeführten Formate und eingespielten Redaktionsteams sehr flexibel, kompetent und schnell reagieren kann, etwa auch durch Erweiterung schon bestehender Sendungen zu Extra- und Sonderausgaben. Verlässlichkeit ist in unsicheren und verunsichernden Zeiten für die Menschen besonders wichtig. Und die Zuschauerzahlen lassen sich hier durchaus als ein Vertrauensbeweis werten. Nur ein Beispiel: Die Hauptausgabe der „Tagesschau“ sahen im März allein im Ersten bis zu 12,4 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer, das entspricht einem Marktanteil von 30,4 Prozent. Rechnet man die zeitgleiche Ausstrahlung in einigen dritten Programmen sowie bei 3sat, Phoenix, Tagesschau24 und ARD alpha hinzu, sind das bis zu 18,78 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer bei einem Marktanteil von 46 Prozent. 8,9 Millionen tägliche Aufrufe verzeichneten zudem die „Tagesschau“-Webseiten bzw. die „Tagesschau“-App im letzten Monat.
Virologen wie Christian Drosten, Jonas Schmidt-Chanasit und Alexander Kekulé sind aktuell Talk-Dauergäste. Warum laden Redaktionen immer wieder die gleichen Experten ein?
Weil diese Experten zu den Besten auf ihrem Gebiet zählen und sie es darüber hinaus vermögen, Statistiken, medizinisch komplexe Zusammenhänge und Auswirkungen so zu erklären, dass jeder dies verstehen kann. Gerade jetzt ist es wichtig, gut und sachlich aufzuklären und klare Aussagen zu formulieren, die allgemeinverständlich sind. Das ist eine Kunst, die diese Experten beherrschen. Hinzu kommt, dass sich die Virologen untereinander weitgehend einig sind, wie in dieser Krise zu handeln ist. Da gibt es keinen grundlegenden wissenschaftlichen Disput oder konträre medizinische Meinungen, die in einer Talkshow ausgetragen werden müssten.
In sozialen Netzwerken gibt es eine Flut von Falschmeldungen zur Corona-Krise. Die Weltgesundheitsorganisation spricht analog zur Pandemie von einer „Infodemie“. Wie kann man sich davor schützen?
Indem man Das Erste schaut … Im Ernst: Ich kann nur empfehlen, sich die Quellen genau anzuschauen, bei denen man sich zur Corona-Krise informiert. Vor allem, weil gerade im Netz neben Wissenswertem leider auch viel Fake News kursiert. Zur Orientierung bieten wir auf „tagesschau.de“ einen Faktenfinder an, der für unsere Zuschauerinnen und Zuschauer recherchiert, was den Tatsachen entspricht und was bloße Spekulation, Panikmache oder Heilsversprechen sind. Die ARD-Redaktionen arbeiten professionell und gründlich und versuchen, für das Publikum das aus der Informationsflut herauszufiltern und nach journalistisch seriösen Kriterien aufzubereiten, was relevant und nachprüfbar ist.
Ein Rheinpfalz-Leser aus Hainfeld kritisiert die Fernsehsender, die mit schlechtem Beispiel vorangingen, wenn in Shows wie „Wer weiß denn sowas?“ hunderte Zuschauer wie Hühner auf der Stange sitzen, bei „Anne Will“ die Gäste zu nah nebeneinander platziert sind, in Kochshows wie „Die Küchenschlacht“ mit Probierlöffeln in Töpfe gelangt wird oder bei „Bares für Rares“ eifrig Hände geschüttelt werden. Selbst wenn alle Sendungen aufgezeichnet wären, müsste doch ein entsprechender Warnhinweis eingeblendet werden. Wie sehen Sie die Vorbildfunktion von ARD-Sendungen?
Natürlich haben wir eine Vorbildfunktion, die wir auch gewissenhaft wahrnehmen. So gibt es im Moment keine Aufzeichnungen mehr von Quizshows mit Publikum. Bei den Folgen, die wir noch vor der Corona-Krise aufzeichnen konnten, kennzeichnen wir dies auch mit einem Hinweis. Für andere Sender und ihre Formate kann ich hier nicht sprechen. Aber ich denke, sie verfahren ähnlich wie wir.
Sie moderieren im Wechsel mit Jörg Schönenborn den „Presseclub“. Welche drastischen Maßnahmen haben Sie seit Corona in Ihrer täglichen journalistischen Arbeit, welche im privaten Alltag ergriffen?
Um unsere Gäste und Mitarbeiter des „Presseclubs“ größtmöglich zu schützen, halten wir im Studio Sicherheitsabstände und strikte Hygienestandards ein. Dazu gehört auch, dass wir einzelne Gäste zuschalten, um eine Gefährdung, wie sie bei Reisen entsteht, zu vermeiden. So habe auch ich meine Reisetätigkeit drastisch verringert und bin vom Büro oder vom Home-Office aus im ständigen Kontakt mit allen Verantwortlichen, Mitarbeitern, Kollegen, um den Programmablauf im Ersten zu gewährleisten. Viele Hürden sind dabei zu nehmen und täglich kommen neue Herausforderungen hinzu. Dabei beeindruckt mich, wie engagiert und professionell alle in diesem Krisenmodus arbeiten. Und ich erfahre täglich, welch großes Potential eine föderalistische Struktur, wie wir sie haben, bietet. Und wie für alle Bürger beschränken sich auch meine privaten sozialen Kontakte derzeit fast ausschließlich auf Skype und Telefonate.